retrowahrheit
blaue eckige kuehltruhenreihe. davor ein monitor mit nachrichtenbildern. in ihm stadtmeldungen. statt dyson-sphaeren werden bloss schuttrutschen in den angrenzenden fabriken im akkord gebaut. demolierwut? ha ha, sagt der auspacker im supermarkt. er schaut wieder kurz zum aufsteigenden kalten dampf, um davon aesthetisch verwirrt, aber dann unbeeindruckt die pappschachteln weiter in das eisfach zu stapeln. pizzadreck, denkt er und zerreisst ploetzlich das innere geistige mosaik. er vergisst sein komplettes leben. besser dies, als nichts zu fressen. der auspacker ignoriert die rauschende menschheitsgeschichte zugunsten seiner gegenwart, in der die haende mehr der kaelte, als dem angeblich erhaltenswerten zusammenhang fuehlen. der clinch von oeffentlicher und privater erzaehlung. der auspacker braucht keinen namen. im supermarkt wird er nicht danach gefragt. karton um karton. haehnchenteile mit rosa abbildungen, auf denen die erzwungene petersilie mit auf dem teller liegt. serviervorschlag aus scham? vielleicht sollte man nur nach rezeptvorschlaegen leben. trugschluss. nach dem aufreissen versinkt die falsche phantasie. die zusammengefrorenen fleischteile liegen orange in plastik und realisieren sich nun tumultartig, entbloessen die unzulaenglichkeit des realen. kurz wird das offensichtliche eingestochen. klein a. vulgaer ist bloss der eigene schock, sich beim erkannten selbstbetrug zu ertappen, denkt der auspacker, um danach eilig im verdraengten zu verschwinden.
im markt sind die gangreihen fruehmorgens noch leer. niemand summt. bloss unscharfe bewegungen der kunden. alles ist in hypnotischer hochgeschwindigkeit gedreht. die wenigen schreiten wie durch ein mausoleum. sie drehen sich auf den hacken und achten alles in unterdrueckter erregung, sind froh den toten gegenstaenden als verzehrer zu begegnen und verzeihen sich dabei schubweise die lust, strafen und beleidigen sich sonst mit verzichtsgesichtern. auf der foerderbahn der kasse ist der striptaese der lebensfuehrung hingegen schon reine gewohnheit. im stehen trinkt der auspacker einen kaffeeersatz aus dem maschinenspender. strahlende produktion. zehn minuten spaeter. backstage die taegliche palettenbefreiung. so viele ertraeumen sich einen blick hinter die fernsehstudiofassade, so wenige meiner arbeit zuzuschauen, denkt auspacker und schneidet mit dem teppichmesser die bunten plastikrippen der verschweissten ware durch. er trennt einen regenbogen. falsch, da dies sich aendert , denkt auspacker. es gibt sendungen ueber ordnungsdienst und zaehlerleser. der auspacker will auch woanders arbeiten. er wuerde sich anstrengen. bewerbungen wuerde er schreiben. alsbald. anbei schicke ich ihnen meinen lebenslauf. dem auspacker ist seine situation klar. er befindet sich hier, wie ein migrantenkind, bereits in zementierten fiktionen des staatapparats. es gibt fuer ihn programme. auspacker fragt sich, aus welchem grund die politiker eigentlich immer nur beste fuer alle wollen und es behaupten? niemand fragt sie. der auspacker denkt an sein bewerbungsgespräch zurueck. an die ueberheblichkeit des armseligen filialleiters. die politiker sollten jedes jahr ihre motivation oeffentlich aussprechen, denkt auspacker und lacht ueber die geschmacklosen tiere auf den cornflakespackungen des discounters.
die papierpresse wird jetzt beladen. piktogramme weisen den weg. achtung! ein lkw faehrt draussen ab. kaltlichtgewitter der deckenroehren. alle leben sich selbst, denkt auspacker, und lassen sich dabei gern taeuschen. er freut sich auf den feierabend, da er die abgelaufenen lebensmittel dann wegschmeissen darf. auspacker muss dann oft grundlos vor dem abschliessbaren container lachen. noch nicht freuen, denkt er mahnend und tritt durch metalltueren in den supermarkt zurueck. auspacker sieht sofort, wie sich die verspiegelte tuer des kontrollraums oeffnet und zwei finger seines leiters wuetend an die decke zeigen. einge videokameras sind schon seit zwei tagen defekt. kuemmer dich doch selbst darum, du faules arschloch, denkt auspacker.
er steckt sich einen induktionshoerer ins ohr. eine wissenschaftssendung laeuft. der mond entfernt sich jedes jahr um 4 cm von der erde. wieso wird diese flucht von niemanden bedauert? im konservenlaufgang runzelt auspacker trotzdem die stirn, als ein anzugtraeger ihn direkt anspricht oder anzusprechen scheint. auspacker kann sich nicht konzentrieren. wenigstens beginnt der tag im radio stetig und immerwaehrend sicher. spricht der kunde, das radio oder meine stimme? denkt auspacker. es gilt als charmant meine sendungen zu ende zu hoeren, sagt der radiomoderator ihm jetzt ins ohr. der auspacker irrt jedoch gewaltig. der etikettenversunkene kunde hat ihn in seiner meditation gar nicht wahrgenommen. in wirklichkeit fuehlt sich der kunde nur aus den augenwinkeln dem kitteltraeger ueberlegen und geniesst stattdessen. treffsicher landet deshalb ein statement in seinem einkaufswagen. [pn]
Kategorie: wachsfigurenkabinett
Schlagworte: dystopie
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