mars
walzer. das wort wirkt, als fehlte in ihm ein buchstabe, obwohl es es doch vollstaendig ist. dieser turniertanz wird in einem gebaeude ausserhalb der stadt in einer generalprobe aufgefuehrt, als wir woanders aus der ubahn steigen, ohne uns umzuschauen. der schnellste tanz des welttanzprogramms. die plakate dafuer haengen ueberall. vor den gelben kachelwaenden bleiben wir stehen. am ende der rolltreppen bellen die schaeferhunde bereits, werfen sich in die halsketten hinein. du korrigierst wortlos deine halterlosen struempfe, damit wir schneller durch die kontrollen kommen. es faellt mir wie immer schwer, mich zu beherrschen, als die soldaten uns abtasten. sie fahren mit lederhandschuhen an deinen beinen entlang. mein rollstuhl wird pro forma durchsucht. zumindest werden die gewehre an diesem kontrollpunkt vorschriftsgemaess nach unten gehalten. sie riechen jedoch an allen fluessigkeiten, die wir bei uns tragen. die gesichtsscanner arbeiten elektronisch, der anwesende offizier ist betrunken. kein wunder bei seinem job. blechern stossen sie uns zu den anderen wartenden. dichte familien stehen duldsam beieinander, ihre kinder spielen mit den abfaellen, die sie in transparenten tueten bei sich tragen. die durchsagen schlucken das duenne lachen. du wirfst wieder eine pille ein. ich stecke die daumen in die faeuste und presse, bis ich das gefuehl habe, dass sie bald brechen. in einer silberwand sehe ich, dass du mir bald die haare schneiden musst.
als wir an die oberflaeche gehoben werden schlaegt regen gegen das plexiglas der fahrstuhlkabine. triste volksmusik spielt ununterbrochen. in diesem abschnitt sind die strassen ueberdacht. die verwaltung hat hier viele baeume gepflanzt, ohne zu ahnen, dass diese auch schatten werfen. du behaeltst deine sonnenbrille trotzdem die gesamte zeit auf. deine augenfarbe habe ich schon laengst vergessen. du schiebst mich hart an den holzverschlagenen schaufenstern vorbei. als ob wir es eilig haetten. mein zungenschnitt ist schlecht verheilt. ich kann dir deshalb nicht sagen, wie mir es vor der zugfahrt graut. sie haetten den transrapid auch in grossdeutschland bauen sollen, denke ich und fuehle die beine, die ich nicht mehr habe. als du mir die infusion oeffnest, fallen dir die sproeden haarlocken ins gesicht. koeterblond nennst du das, wie deine mutter immer sagte. mir wird warm, du spielst mir vorgefertigte aufnahmen auf dem rollstuhlbildschirm vor. ich kann kaum die finger heben. das morphium fuellt mir jede ader aus. ich bin ueberrascht, als du lachst, waehrend der glashimmel fuer eine werbung abgedaempft wird. jeder konflikt hat eine richtige seite, sagen sie. ich hasse das morphium, weil ich mich darin oft an das laufen erinnere. immer wieder sage ich dir, dass du mich einfach in einen graben schieben sollst, wilde fuechse wuerden es schon beenden. du schuettelst den kopf. es scheint dir irgendetwas daran zu liegen, mich zu behalten. auf der strasse schenken sie uns einen gruenen heliumballon, den du sofort als markierung am rollstuhl befestigst. undeutlich schlafe ich ein.
als ich aufwache fahren wir bereits im zug. den urinbeutel hast du schon geleert. das schienengeratter im gang ist besonders laut. es zieht furchen in meinen verstand. durch die fenstergitter sehe ich den roten sand gespiegelt. ab und zu ein blasses dorf im hintergund, ohne strom und fliessend wasser. es ist mir unverstaendlich wie dort menschen leben koennen. du stehst die ganze zeit, um mich zu provozieren. manchmal spannst du dabei sogar deine schenkelmuskel rhythmisch, damit ich ihre kontraktionen sehen kann. glaub mir, ich weiss, dass du beine hast. als du mir etwas nektar gibst, kommt der schaffner vorbei. immerhin traegt er einen schnauzer. da mein hals mit kaltem rotz gefuellt ist, tritt statt lachen nur ein versuch aus meinen mund heraus. du traegst jetzt ein gelbes kleid, mit v-auschnitt. ich kann es aus den augenwinkeln sehen. der schaffner klappert mit den augen, nickt dann in meine richtung. ich zucke mit den armen. er schliesst trocken sein maul, als er die kriegsversehrtenmedaille an dem rollstuhlruecken entdeckt. deine hand legt sich sofort demonstrativ auf meine kuenstliche schulter. als ich deine haut das letzte mal beruehrte, fuehlte sie sich ledern an. so sehr du dich auch bemuehst, sie zu cremen und zu pflegen, sie wird nie mehr zart werden.
die monde stehen jetzt weit oben. du zeigst mir spater photos von deinem zukuenftigen leben. ich schaue sie aufmerksam an. mein gedaechtnis ist zu sechzig prozent gestoert. obwohl ich dir immer wieder die gleichen fragen stelle, bleibst du geduldig. angststoss. vor den fenstern schiesst goldenes pulver aus der zugartillerie weit in die felder hinein. du gibst mir einen zungenkuss durch die plastikmaske. immerhin bin ich eine lukrative art geld zu verdienen. [pn]
Kategorie: erzaehlung
Schlagworte: dystopie
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